Im April 1945 marschierte die Rote Armee in unseren Ortschaften ein. Als Kind war für mich alles interessant und prägte sich in mein Gedächtnis ein. In den letzten Kriegstagen war ein geregelter Unterricht kaum möglich. Jede Woche gab es Fliegerangriffe. Vor unserem Haus stand die Kaiserlinde, die durch eine Fliegerbombe zerstört wurde. Alle Fensterscheiben in unmittelbarer Nähe gingen zu Bruch.
Die russischen Soldaten quartierten sich in die leerstehenden Häuser ein. Die Möbel warfen sie in den Hof und zum Schlafen streuten sie Stroh auf den Fußboden. Türen und Tore standen sperrangelweit offen und die Einfahrtsstraßen waren durch Panzersperren abgeriegelt. Unser Haus war auch unbewohnbar und lag direkt an der Landesstraße. Durch die Straßensperre wichen die Fahrzeuge aus und fuhren durch unseren Hof.
Wir zogen zur Großmutter. In ihrem Haus war ein Kommissar einquartiert. Drei Wach-soldaten wechselten sich beim Dienst ab. Einer war Musikant, einer kam vom Zirkus und einer war Dolmetscher und Wahrsager. Zu Kindern waren die Soldaten sehr nett und der Wahrsager konnte sogar einige Wörter deutsch sprechen. Meine Mutter wollte von ihm wissen, ob unser Vater noch lebt und wieder nach Hause kommen würde. Er nahm ihre Hand, streifte über die Handfurche und sagte: „Dein Mann lebt, er kommt am 12. Dezember nach Hause und wird schwer krank sein“. Ich merkte mir das Datum genau, da meine Schwester an diesem Tag Geburtstag hatte.
Im Herbst reparierten wir unser Haus und in der Adventzeit wohnten wir bereits wieder daheim. Ein kleiner Ofen spendete Wärme und auf dem Küchentisch stand eine Kerze, da der elektrische Strom noch nicht funktionierte. Wir saßen beim Abendessen, da ging plötzlich die Tür auf und unser Vater kam herein. Unsere Freude war unermesslich, nur meine Mutter machte ein sorgenvolles Gesicht. Sie sah, dass unser Vater schwer krank war, genau wie es der Wahrsager voraussagte. Mich erfasst heute noch ein mulmiges Gefühl, wenn ich an diesen Adventabend denke.
Bald war Heiliger Abend, ein strenger Fasttag. Essen war ohnedies nicht im Überfluss vorhanden, also fiel uns das Fasten nicht schwer. Am Abend durfte man erst essen, wenn der erste Stern am Himmel erscheint. Unsere Eltern wollten uns aus dem Nichts ein schönes Fest gestalten. Mein Vater besorgte einen abgebrochenen Schaufelstiel und meine Mutter schnitt eine dünne Scheibe von einem Baumstamm. Durch ein Loch in der Baumscheibe steckten sie den Schaufelstiel. Mit einem Handbohrer wurden von allen Seiten kleine Löcher in den Stiel gebohrt. Von der alten Fichte hintaus im Garten schnitt meine Mutter passende Ästchen und steckte sie in die vorbereiteten Löcher. Christbaumschmuck gab es keinen, aber bei den Bombenangriffen im Frühjahr warfen die amerikanischen Flieger Aluminiumstreifen ab, die den Funkverkehr stören sollten. Für uns Kinder waren die glitzernden Streifen wahre Schätze aus einer anderen Welt. Wir sammelten um die Wette und versteckten den Schatz in einer Schachtel unter dem Bett. Nun erinnerten wir uns wieder an die Glitzerstreifen, die statt Engelshaar oder Lametta das Kunstbäumchen schmückten. Die Christbaumkugeln wurden durch Äpfel ersetzt und gaben dem Baum ein buntes Aussehen. Auch einige selbstgemachte Krapferl von Oma wurden mit Zwirnsfäden an die Zweige gebunden.
Bei der bescheidenen Weihnachtsfeier stimmte mein Vater das Lied „Stille Nacht“ an, aber er konnte es nicht zu Ende singen, da ihm die Stimme versagte und die Tränen über sein zerfurchtes Gesicht rannen. Wenn es auch keine Geschenke gab, so war es doch die berührendste Bescherung meines Lebens, mein Vater war wieder da!
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